Berufliche Orientierung
Geschichte einer beruflichen Neuorientierung
In meiner philosophischen Praxis erlebe ich oft, wie Klienten mit Fragen zu mir kommen, die weniger psychologischer Heilung als einer klaren Orientierung bedürfen. So war es auch bei Frau L., die kürzlich eine berufliche Neuorientierung in Erwägung zog und sich in einem inneren Konflikt befand. Sie war auf eine interessante Stellenausschreibung gestoßen, die sie beruflich weiterbringen könnte – doch gleichzeitig fühlte sie eine starke Bindung an ihren jetzigen Arbeitgeber. Sie spürte eine Verpflichtung, ihre Arbeit dort weiterzuführen und offene Aufgaben abzuschließen. Diese innere Zerrissenheit zwischen ihrem Wunsch nach Veränderung und ihrem Verantwortungsgefühl trieb sie zu mir.
In unseren Gesprächen näherten wir uns diesem Dilemma auf eine philosophische Weise, die ihr half, ihre eigenen Werte und Überzeugungen zu hinterfragen. Meine erste Frage an Frau L. lautete: „Was bedeutet es für Sie, loyal zu sein?“ Sie erzählte von ihrer tief empfundenen Verpflichtung, bei ihrem jetzigen Arbeitgeber etwas zu bewirken und für ihre Kolleginnen und Kollegen da zu sein. Doch bereits hier zeigte sich, dass ihr Begriff der Loyalität stark mit ihrer Suche nach Sinnhaftigkeit und Wirkung im Beruf verknüpft war. Sie wollte, dass ihre Arbeit zählt und dass sie Spuren hinterlässt.
In weiteren Sitzungen fokussierten wir uns auf diese Motivation, mehr über ihre Vorstellung von Verantwortung und Erfolg zu erfahren. Frau L. erkannte, dass es nicht nur um die Beziehung zu ihrem Arbeitgeber ging, sondern um ihre eigene Sehnsucht nach beruflicher Erfüllung und Weiterentwicklung. Ich fragte sie: „Wie fühlt es sich an, wenn Sie daran denken, dass Sie vielleicht noch nicht alles vollendet haben?“ Diese Frage ließ sie nachdenklich werden und brachte einen wichtigen Perspektivwechsel. Frau L. begann zu verstehen, dass ihre Loyalität teilweise auf einem inneren Ideal beruhte, immer alles perfekt hinterlassen zu wollen – ein Ideal, das oft unerreichbar ist und sie eher blockierte als unterstützte.
Im Verlauf unserer Gespräche kam sie zu der Einsicht, dass sie sich selbst treu bleiben konnte, ohne dabei an ihrem aktuellen Arbeitsplatz alles zu Ende führen zu müssen. Durch philosophisches Reflektieren entdeckte sie ihren inneren Kompass, den sie schon lange besaß, aber im Nebel von Pflichten und Erwartungen aus den Augen verloren hatte. „Wo möchte ich wirklich hin?“ war eine Frage, die sie sich zum ersten Mal klar und deutlich stellte.
Mit dieser Klarheit fand sie schließlich den Mut, eine Entscheidung zu treffen, die sie ohne Schuldgefühle und mit einem gestärkten Selbstbewusstsein traf. Sie entschloss sich, den Schritt zur neuen Position zu wagen und gleichzeitig die Verantwortung gegenüber ihrem bisherigen Arbeitgeber in einer Weise zu erfüllen, die ihre Werte respektiert, aber nicht von Perfektionismus getrieben ist.
Diese Fallgeschichte zeigt, wie eine philosophische Praxis den Raum für Reflexion und Selbsterkenntnis öffnet. Für Frau L. ging es nicht um die Heilung seelischer Wunden, sondern um die Klärung ihrer eigenen Werte und die Rückkehr zu ihrem eigenen inneren Kompass. Ich sehe die philosophische Praxis als einen Ort, an dem Menschen Orientierung finden können – eine Alternative für jene, die nicht psychotherapeutische Hilfe suchen, sondern philosophische Einsicht und Klarheit.