Altwerden ist nichts für Feiglinge
Vor einigen Wochen kam Frau M. zu mir in die Philosophische Praxis. Sie war in einer Phase ihres Lebens, die sie selbst als „Stillstand“ empfand. „Altwerden ist nichts für Feiglinge“, sagte sie, und in diesem Satz lag mehr als nur ein Hauch von Resignation. Sie fühlte sich hin- und hergerissen: einerseits von der Hoffnung auf ein intensiveres, „echtes“ Leben, das ihrer Vorstellung nach morgen oder übermorgen beginnen könnte; andererseits von der Verpflichtung gegenüber ihrem Arbeitgeber, wo sie sich bemühte, Veränderungen zu bewirken, die sie selbst als dringend nötig empfand. Doch in all dem spürte sie einen wachsenden Druck – und das Gefühl, dass ihr eigenes Leben irgendwie an ihr vorbeiging.
In unserem ersten Gespräch wurde schnell klar, dass Frau M. das Leben vor allem als etwas betrachtete, das noch vor ihr lag. Sie hatte sich innerlich eingerichtet in der Vorstellung, dass die Gegenwart eine Art Zwischenzustand sei – ein Provisorium, das es zu überbrücken galt, bis das „wahre Leben“ endlich beginnen würde. Dieses Denken erinnerte mich an ein Zitat von Schopenhauer, das ich ihr vorlas: „Die Meisten werden, wenn sie am Ende zurückblicken, finden, daß sie ihr ganzes Leben hindurch ad interim gelebt haben, und verwundert sein, zu sehn, daß das, was sie so ungeachtet und ungenossen vorübergehen ließen, eben ihr Leben war.“
Dieser Gedanke berührte Frau M. tief. Gemeinsam gingen wir der Frage nach, was es bedeutet, wirklich zu leben – und was sie davon abhielt, die Fülle ihres Lebens im Hier und Jetzt zu erkennen. Sie begann, sich mit ihrer eigenen inneren Haltung auseinanderzusetzen. War das Leben tatsächlich noch nicht „echt“? Oder war es ihre Erwartung, dass alles anders, besser, intensiver sein müsste, die sie daran hinderte, das gegenwärtige Leben zu schätzen?
Ein weiterer wichtiger Aspekt unserer Gespräche war ihre berufliche Situation. Frau M. fühlte sich ihrem Arbeitgeber verpflichtet und glaubte, dort einen Unterschied machen zu können. Doch gleichzeitig erlebte sie Frustration, weil viele Dinge außerhalb ihrer Kontrolle lagen. Gemeinsam hinterfragten wir, welche Verpflichtungen wirklich Bestand hatten und welche Erwartungen sie sich möglicherweise selbst auferlegt hatte. Sie erkannte, dass ihr Engagement ehrenwert war, aber auch, dass es ihre Lebensenergie aufzehrte, ohne dass sie selbst Raum für ihre eigenen Wünsche und Ziele fand.
Die philosophische Reflexion half ihr, eine neue Perspektive zu entwickeln. Sie begann zu verstehen, dass ihre berufliche Tätigkeit Teil ihres Lebens war – aber nicht das ganze Leben ausmachen musste. Und vor allem: dass sie nicht alles alleine ändern musste, um ihrem Leben Bedeutung zu verleihen. Sie erkannte, dass sie Verantwortung für ihr eigenes Glück übernehmen durfte, ohne dabei ihre Verpflichtungen zu verraten.
Im Laufe der Gespräche löste sich Frau M. von der Vorstellung, dass das Leben auf einen perfekten Moment zusteuere. Sie gewann die Einsicht, dass das Leben bereits jetzt stattfand, mit all seinen Unvollkommenheiten, Herausforderungen und Schönheiten. Diese Erkenntnis war für sie befreiend: Sie konnte die Gegenwart als wertvoll erleben, anstatt auf eine Zukunft zu hoffen, die möglicherweise nie so eintreten würde, wie sie es sich vorstellte.
Die Philosophische Praxis war für Frau M. ein Raum, in dem sie Klarheit gewann und sich selbst neu begegnete. Sie lernte, den eigenen Ansprüchen mit Gelassenheit zu begegnen und sich nicht mehr von äußeren oder inneren Erwartungen treiben zu lassen. Heute hat sie eine neue Balance gefunden: Sie engagiert sich weiterhin in ihrem beruflichen Umfeld, aber ohne sich dabei selbst zu verlieren. Gleichzeitig hat sie begonnen, die kleinen Momente des Alltags bewusst zu genießen – als das, was sie sind: das Leben selbst.
Frau M. hat verstanden, dass das Leben kein Wartezimmer ist. Es ist nicht etwas, das eines Tages beginnt, wenn alles perfekt ist. Das Leben ist immer hier, immer jetzt. Es liegt an uns, ob wir es gestalten oder an uns vorbeiziehen lassen. Diese Erkenntnis macht die Philosophische Praxis zu einem einzigartigen Ort: Sie bietet Raum für Reflexion, Orientierung und Einsicht – für alle, die sich auf die Frage einlassen möchten, wie sie ihr Leben authentisch und bewusst gestalten können.
Ich lade Sie ein, diesen Raum zu nutzen, wenn Sie das Gefühl haben, dass in Ihrem Leben etwas Wesentliches zu kurz kommt. Vielleicht haben auch Sie das Gefühl, dass das „echte Leben“ noch auf Sie wartet? Vielleicht spüren Sie, dass etwas fehlt, wissen aber nicht genau, was? Die Philosophie bietet keine schnellen Antworten, aber sie bietet die Möglichkeit, Fragen zu klären und Wege zu finden – in die Tiefe und ins gelebte Leben.
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